Outsourcing oder organisierte Verantwortungslosigkeit?
Gerade ist die globale Unternehmensberatung Accenture von ihrem Vertrag mit dem britischen National Health Service (NHS) zurückgetreten. Das Unternehmen sollte für rund zwei Mrd. britische Pfund die gesamte IT-Infrastruktur des NHS im Nordosten und Osten Englands neu einrichten und verwalten, hat aber angesichts anhaltender Verluste aus diesem Geschäft die Segel gestrichen.
Das Projekt wurde von Schatzkanzler Gordon Brown erdacht. Der Rivale und mögliche Nachfolger des noch amtierenden Premiers Tony Blair ist leidenschaftlicher Befürworter der Auslagerung staatlicher Funktionen an externe Agenturen im Rahmen von Public-Private Partnerships (PPP). Auf dem Parteitag der Labour Party im September gab Brown bekannt, auch die Aufsicht über das britische Gesundheitssystem an ein „unabhängiges Kontrollorgan“ abtreten zu wollen. Ob dieses Vorhaben durch den Fehlschlag des Accenture-Projekts einen Dämpfer erfahren wird, steht dahin. Doch mit dem NHS würde nicht nur der größte Arbeitgeber der EU einer anonymen Bürokratie überantwortet, sondern die Gesundheitspolitik selbst.
PPP-Verträge dieser Dimension ähneln mitunter, wie das Beispiel Accenture zeigt, dem Roulettespiel. Doch dieses Risiko ist nichts im Vergleich zu den Gefahren, die aus der Auslagerung politischer Kompetenzen erwachsen. Die ist schlecht für die Demokratie: Immerhin wäre auch ein Premier Brown abwählbar, aber ein NHS Board unterläge einer solchen demokratischen Kontrolle nicht. Wie die desolaten Ergebnisse der Teilprivatisierungen der britischen Eisenbahnen und Straßennetze schon gezeigt haben, ist die Auslagerung außerdem ein Rezept für schlechtes Management.
Die Empörung über Gordon Browns Pläne ist groß, geht aber von falschen Prämissen aus. Dem Schatzkanzler wird vorgeworfen, das britische Gesundheitswesen der Habgier privatwirtschaftlicher Unternehmen preisgeben zu wollen. Auch über Korruption wird gemunkelt. Die Vorstellung ist die, Outsourcing-Spezialisten im Privatsektor – im Falle der IT im NHS also Accenture, BT, Computer Sciences Corporation, Fujitsu und iSoft – rekrutierten ehemalige Bonzen aus dem staatlichen Sektor, die ihnen dann behilflich seien, auf Kosten der Steuerzahler und zulasten schlecht bezahlter Arbeitskräfte und miserabel versorgter Nutzer öffentlicher Dienste hochprofitable Geschäfte aufzuziehen. In diesem Szenario bestechen mächtige multinationale Unternehmen Minister und liefern sodann Leistungen, deren Qualität in etwa der von Donald Rumsfeld nach dem Fall von Bagdad entspricht.
Die Wirklichkeit ist, wie in den meisten Fällen, komplexer, als die etwas in die Jahre gekommene Polemik gegen kapitalistische Konzerne wahrhaben will. Nicht marktwirtschaftliche Habgier, sondern Angst und Verantwortungsscheu aufseiten der Regierenden stehen Pate bei der Auslagerung öffentlicher Aufgaben. Julian Le Grand, Professor für Sozialpolitik an der London School of Economics und ehemaliger Berater Tony Blairs, räumte nicht umsonst jüngst in einem Interview mit der BBC ein: „Fast alles, was die Minister der Notwendigkeit enthebt, im Unterhaus für das, was im NHS geschieht, gerade zu stehen, ist gut.“
Aus dem Outsourcing öffentlicher Funktionen entstehen verwickelte Mischstrukturen bürokratisch-privatwirtschaftlicher Kooperation. Das Ergebnis: Die Kosten wachsen exponentiell, während die Qualität der gelieferten Leistung sinkt. Schließlich weiß keiner, wer eigentlich wofür zuständig ist. Und dann bedarf es natürlich weiterer Instanzen, die den Überblick über das so geschaffene Chaos gewährleisten sollen.
Dieser Mechanismus ist die logische Folge politischer Risikoscheu. Die Angst, defizitäre medizinische Versorgung, schlechte IT, mangelhafter Datenschutz oder aus dem Ruder laufende Gesundheitskosten könnten politische Folgen zeitigen, treibt die Regierenden zur Auslagerung solcher Risiken an immer neue externe Anbieter und Organe.
Die Kausalkette ist im Falle Großbritanniens einfach zu überschauen. Die Labour-Regierung und ihr gehorsamer Botschafter, die BBC, machen sich erst zum Sprachrohr für Gesundheitspaniken über BSE, Stress, Mobilfunkstrahlung, Impfstoffe und – in jüngster Zeit – Fettleibigkeit. Sodann erschüttern entsprechende Studien auf breiter Front das Vertrauen in die Integrität der Ärzte, Pfleger, Forscher, Apotheker und Pharmakonzerne, mit dem Ergebnis, dass jede Berufsgruppe im Gesundheitssektor in den Augen der Öffentlichkeit als gleichermaßen korrupt wie inkompetent dasteht. Dann wundern sich die Manager im NHS über eine massive Zunahme der Beschwerden besorgter Patienten, die nicht mehr wissen, wem sie trauen sollen. Und um der so erzeugten Unruhe Herr zu werden, beauftragt man schließlich externe Experten, um das Chaos mithilfe eines neuen IT-Systems zu beheben, das für bessere Kommunikation zwischen Ärzten, Patienten und Gesundheitsbehörden sorgen soll.
Doch dann brauchen der britische Ärzteverband, der Guardian oder die BBC nur anzudeuten, das neue IT-System im NHS biete keinen ausreichenden Datenschutz, und schon verlangt die Regierung die Umsetzung enormer zusätzlicher Sicherungsvorkehrungen und Kontrollinstanzen, um sich gegen mögliche Klagen über Datenmissbrauch abzusichern. Und die Kosten dafür tragen dann schließlich die als korrupte Absahner geschmähten Unternehmen, die als externe Lieferanten beauftragt wurden, für die Regierung die Kohlen aus dem Feuer zu holen.
Ein wunderbares Rezept für „Transformational Government“, wie man das heute in der Downing Street nennt, oder? Ich nenne es verantwortungslos, denn es verhindert Innovation und stranguliert die Manager von PPPs laufend mit neuen Regularien. Während Manager im Privat- wie im öffentlichen Sektor immer dichteren Regelungsnetzen und strengen Compliance-Vorschriften unterworfen werden, entzieht sich die britische Regierung jeder Rechenschaftspflicht für zentrale Bereiche der staatlichen Politik. Was hier in erster Linie ausgelagert wird, sind nicht Kosten oder Mitarbeiter, sondern der ganze Prozess der Erteilung und Einhaltung politischer Versprechen. So dankbar Auslagerungsexperten für öffentliche Aufträge sein mögen, sollten sie doch darauf bestehen, dass die Auslagerung politischer Verantwortung definitiv das Outsourcing einen Schritt zu weit treibt.
Übersetzt und bearbeitet von Sabine Reul.
Published in: Novo 85, November 2006
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